Von Karl Robert Popp
Erzgebirgische Heimatblätter Nr. 3 – Sonntag, den 17. Januar 1937, S. 5 – 6.
Wir wohnten auf einem Berg, mitten in einem der waldreichsten Teile des „grünen Meeres”. Herrlich und schrecklich zugleich war es für uns Kinder, wenn die Herbststürme das Haus umheulten. Dann schlichen wir hinunter in den hölzernen Vorbau, der die eigentliche Haustür schützte und in allen Fugen zitterte. Durch eine Lücke sahen wir von dort aus die Dachschiefer in die Luft wirbeln und einmal sogar ein Gartenhäuschen in der Nähe, von der Gewalt des Sturmes aus den Fugen gerissen, polternd talabwärts stürzen. Am herrlichsten und zugleich am gruseligsten war es aber an den langen Winterabenden. Da kam mehrmals in der Woche eine ältere Frau zu Besuch, „hutzen” sagte sie. Die war mit allen Geistern und Gespenstern der Wälder und Schächte auf Du und Du. Dann rückten wir unsere „Hitschen” im Halbkreis um den Klöppelsack der Alten und lauschten wie die Mäuschen. Einmal erzählte sie uns von der „Winselmutter”, einem weißen, dreibeinigen Hund, dessen nächtliches Geheul den Tod ankündigt. Kurze Zeit darauf wurde ich nachts von einem durchdringenden Heulen geweckt und schlich bebend hin zum Fenster. Da sah ich im Mondlicht den Gespensterhund stehen. Fahl erglänzte sein Fell, und das vierte Bein fehlte. Wieder begann er zu heulen, und nun gab es kein Halten mehr. Die Haare standen mir zu Berge, und ich flüchtete in die schützende Wärme meines Bettes. Unter der Decke aber stand ich die erste Todesangst meines zehnjährigen Lebens aus, und ich begann verzweifelt zu beten, bis endlich der Schlaf des Kindes über die Furcht siegte. Erst am anderen Tag kam die Erlösung in Gestalt eines Bauern, dem sein Spitz entlaufen war, und der bei uns nachfragte. Der Gespensterglaube war aber damit noch lange nicht abgetan, und ich entsinne mich, daß wir sogar als „aufgeklärte” Sekundaner einmal den weiten Weg nach Grünhain machten, wo um Mitternacht die Winselmutter auf der alten Klostermauer sitzen und hinunter in die Wasser des Fischbaches winseln sollte. Einer von uns war mit dem Forstmeister, von dessen Wohnung aus der Zutritt zum alten Klostergarten möglich war, gut Freund. Um Mitternacht trafen sich dann vor den Fenstern drei Helden, die sich vor lauter Männlichkeit gegenseitig in überheblichen Worten zu übertrumpfen suchten und innerlich alle drei leise bebten. Vorsichtig – wer konnte denn wissen! – schlichen wir hin zu unserem „Anstand”. Die Geisterstunde verstrich, aber wir sahen nichts. Wahrscheinlich geisterte die Winselmutter gerade in dieser Nacht am Oswaldsbach.
Nun lacht aber nicht zu sehr, ihr auf- und abgeklärten Stadtmenschen, die ihr den Katzen nicht ausweicht, von einem Streichholz nicht dreimal Feuer nehmt, Glückspuppen in die Autos hängt und tagsüber einigemale auf Holz klopfend ein „toi-toi-toi” vor euch hinmurmelt! Ihr solltet erst einmal in mitternächtiger Stunde allein einen Gang durch die einsamen Wälder des Erzgebirges machen! Denn sicherlich hängt es mit dem landschaftlichen Charakter des Erzgebirges zusammen, daß sich gerade dort eine ganze Welt von Sagengestalten und Gespensterglauben gebildet hat. Um das einzusehen, braucht man – wie gesagt – nur einmal in einer Mondnacht durch einen düsteren Fichtenwald, unterbrochen von Felsen und Gestrüpp, zu gehen. Zwischen den schwarzen Stämmen geistert das Mondlicht, belebt hier und da einen weißlich schimmernden Stein, einen seltsam geformten Knorren, und in dem lastenden Schweigen wird ein knackender Ast oder das Geräusch eines aufgeschreckten Tieres zum unheimlichen Laut.
Der Erzgebirgler ist seinem ganzen Wesen nach durchaus aufgeschlossen für das Rätselhafte, Unheimliche. Dazu kommt noch die Sitte des „Hutzengehens”: Am Abend trifft man sich in dem oder jenem Hause zu einem gemütlichen Beisammensein an der warmen „Ufnbank”. Wenigstens war es so. Die Männer qualmten, die Frauen klöppelten, und meistens wurden dabei allerhand unheimliche Geschichten zum besten gegeben. Natürlich kamen dann die Besucher allmählich in eine aus Gruseln und behaglichem Zuhören gemischte Stimmung hinein. Kein Wunder, wenn auf dem nächtlichen Heimweg der oder jener „etwas sah” oder vielmehr zu sehen glaubte! Ein im Dunkeln leuchtender fauler Stamm, funkelnde Tieraugen, ja, selbst weggeworfenes Papier wurden dann zu unheimlichen Wesen. So mögen sich vielleicht Erzählungen, wie die vom Wiesenthaler Fleischer, erklären. Im Jahre 1655 hatte ein Fleischer aus Wiesenthal, der von seinem Heimatort nach Elterlein wanderte, eine unheimliche Begegnung. Auf einer Lichtung im Walde trat ihm ein schreckliches Gespenst in den Weg, das trug um den Leib eine Kette von Totenköpfen, hatte glühende Augen und ließ eine feurige Zunge aus dem weitaufgerissenen Mund hängen. In furchbarem Entsetzen wandte sich der Fleischer zur Flucht, aber das Phantom blieb ihm auf den Fersen und verschwand erst im Wohnzimmer des Fleischers, nachdem dieser das Licht gemacht hatte. Unendlich reich ist das Erzgebirge an Erzählungen und Sagen dieser Art! Da gibt es z. B. eine Menge Gespensterorte: So das blaue Licht im Schieferbruch bei Jugel, der Wasserteufel in Gottesgab, der Otternkönig beim Hohen Kreuz zu Grünhain, das heulende Wasser von Elterlein, das gespenstische Licht am Leichenstein zu Breitenbrunn, der spukhafte Schwan im Schwarzwasser bei Schwarzenberg, der Geistergesang in Wildenau oder der kopflose Reiter bei Bernsbach. Allgemein verbreitet ist der Glaube an Drachen, Berggeister (besonders das „Graamannel”), Heugütel, Holzweibchen, Waldgeister, Hexen, Kobolde, Gespensterhunde, Teufel, Bilmschnitter etc.
Meine Braut hörte sich lachend diese Erzählungen an und drang gleich bei ihren ersten Besuchen im Erzgebirge auf einen nächtlichen Gang in die Berge. Schließlich einigten sich mein Vater und ich auf einen bestimmten Weg. Und siehe da: Die wackere Leipzigerin „forcht sich net”, ging unbekümmert an einer weißgestrichenen Friedhofsmauer vorüber, achtete nicht der Schatten und Geräusche des raffiniert herausgesuchten Weges. Und doch spielte das Mondlicht einmal so seltsam um eine abenteuerlich verkrüppelte Birke, die inmitten finsterer Fichten stand, daß ich meinen Arm einen Augenblick lang mit geradezu eisernem Griff erfaßt fühlte. Mein Vater war indessen von dem Ergebnis des Ganges durchaus nicht erbaut und löste die Gespensterfrage auf seine Art. Er gab dem Gärtner ein angemessenes Trinkgeld und beauftragte ihn, sich in der kommenden Nacht am Rande des sogenannten Hirschschädels, einer kleinen, auf dem Berggipfel liegenden Waldwiese, zu verbergen und auf uns zu warten. Sobald wir in Sicht kämen, sollte er sich ein weißes Nachthemd (wurde geliefert) anziehen, aus dem Walde herausschreiten, mit langsamen, feierlichen Bewegungen auf uns zukommen und dabei fortwährend mit hohler Stimme „buh-buh-buh” rufen. Leider hatten wir Wind von dem Geheimnis bekommen, und das brachte uns von vornherein um das erhoffte Gruseln. Als wir aber an dem bewußten Spätabend mühsam etwa die halbe Höhe des Berges erklommen hatten, kam uns eine weiße Gestalt aufgeregt entgegengelaufen. Schon von weitem rief sie: „Harr Dokter, Harr Dokter!! Sei Sie’s?!! – Es war unser Gärtner. Der Brave hatte sich in der Einsamkeit, angetan mit einem weißen Nachthemd, furchtbar – vor sich selber gefürchtet. Als er zudem noch probeweise einmal vor-sich-hin-buhte, da hatte ihn völlig das Grausen gepackt, und er rannte bergabwärts, als sei das gesamte wilde Heer hinter ihm.