Das „Vater Unser“ in Bildern (4)

von Ludwig Richter und nach einer Predigt-Textauslegung von Sup. Robert Lischke-Plauen.

(3. Fortsetzung.)

Vergib uns unsere Schuld,
wie wir vergeben unsern Schuldigern

Vater, ich habe gesündiget gegen den Himmel und vor Dir; ich bin hinfort nicht mehr wert, daß ich Dein Sohn heiße.
Lukas 15, 21.

„Vergieb uns unsere Schuld, wir vergeben unsern Schuldigern.“ Es gibt eine Nacht, die noch dunkler ist, als die Sorgennacht. Es gibt eine Last, die noch schwerer drückt, als Brotsorge, Mietzinssorge, Kleidungssorge usw.; ich meine die Sorge eines bösen Gewissens, die Nacht eines unversöhnten Herzens. Freilich, es gibt genug, die merken von solcher Nacht kaum etwas, die suchen solche Last leichtfertig abzuschütteln. Und doch, lieber Christ, steht eine Scheidewand zwischen Dir und dem heiligen und gerechten Gott, und das ist: Deine Sünde! Oder mußt Du denn nicht auch mit den Edelsten und Besten in der Welt bekennen: „Wer kann merken, wie oft er fehlet; verzeihe mir, Herr, die verborgenen Fehler?“ Hast Du es denn nicht erfahren, daß der Dichter recht hat: „Der Uebel größtes ist die Schuld!“ Wie oft konntest Du am Abend nicht ruhig einschlafen, ja, auch am Morgen nicht fröhlichen Herzens an Dein Tagewerk gehen, weil eine ungesühnte oder unerkannte Schuld wie ein Bann auf Deiner Seele lag!

Komme heut, komme in dieser stillen Stunde jetzt, wird Dich einmal nieder vor Deinem himmlischen Schuldherrn und erschließe ihm voll und ganz Dein Herz, bekenne ihm alle Deine Schuld und Missetat; denn ehe das Werk Deiner Besserung beginnen kann, ehe du hilfreich andern Dich erweisen kannst, mußt Du zuvor ein freies, fröhliches, versöhntes Herz und Gewissen haben!

Hast Du das wirklich? Hast Du nicht so oft, so oft gefehlt gegen Deine Eltern und Geschwister, gegen Gatten und Kinder, gegen Nachbarn und Hausgenossen? Was für Worte kamen schon über Deine Lippen, was für Gedanken zitterten schon durch Deine Seele, was für Wünsche sind schon in Deinem Herzen lebendig geworden! Wenn Du auch sprichst: „Mir kann niemand etwas Böses nachsagen,“ wenn der Allwissende droben, der ins Verborgene sieht, anfängt mit Dir zu rechnen, wirst Du nicht rufen lernen: „Vergib!?“ Und um Christi willen, der alle Deine Schuld auf sich genommen, auf daß Du wieder Frieden habest, wird der Himmelsstrahl der Vergebung in Deine Seele leuchten; Du wirst Christi Stimme hören: „Sei getrost, Deine Sünden sind dir vergeben!“

Aber dann kannst Du es nicht tun, wie der Schalksknecht, der von seines Herrn Angesicht wegging und würgte seinen Mitknecht um 300 Groschen. Versöhnte Herzen müssen auch versöhnlich sein! Es ist die einzige Bitte im Vaterunser, die ein Gelübde enthält: „wie wir vergeben unsern Schuldigern.“ Als König Ludwig XII. von Frankreich den Thron bestieg, ließ er ein Verzeichnis aller seiner Feinde anlegen und bezeichnete dann selbst jeden Namen mit einem schwarzen Kreuz. Als dies bekannt wurde, flohen seine Feinde, weil sie das Kreuz als das Zeichen ihres Todes betrachteten. Der König aber ließ sie zurückrufen und sagte: „Ich habe darum jedem Namen das Kreuz beigesetzt, daß es mich an das Kreuz meines Erlösers erinnere, der noch am Kreuz für seine Feinde gebetet: Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“

Das ist echtes, lebendiges Christentum; übst Du es auch? Warum gehst Du an einem Hause nicht gern vorüber? Warum magst Du der oder dem nicht gern begegnen, und geht es einmal nicht anders, dann siehst Du am liebsten weg und empfindest Unruhe in Dir? Warum kannst Du Deinem Nächsten nicht verzeihen und schleppst einen unversöhnten Groll wochenlang, monatelang mit Dir herum, ziehst ihn wohl gar vor Gericht, in einen langen Prozeß hinein? Weil Du noch nicht beten gelernt hast: „Vater, vergib -, wie wir vergeben unsern Schuldigern!“ Wenn Du’s recht besiehst, ist es gewöhnlich nur eine Kleinigkeit, ein böses Wort, ein unbedeutender Schaden, eine kleine Beschämung, vielleicht auch gar nicht so schlimm gemeint, und doch kocht es in Dir, wenn Du nur daran gedenkst. Ihr Ehegatten, Ihr Geschwister und Nachbarn, laßt heut die Sonne nicht mehr untergehen über Eurem Zorn! „Mein ist die Rache, ich will vergelten,“ spricht der Herr. Wenn der Tod heut Euch für immer voneinander trennte, würde es nicht ein Stachel in Deinem Gewissen bleiben, daß Du nicht die Hand zur Versöhnung gereicht?

O lieb‘, so lang‘ du lieben kannst,
O lieb‘, so lang‘ du lieben magst,
Die Stunde kommt, die Stunde kommt,
Da du an Gräbern stehst und klagst!

Muß Dir nicht Dein himmlischer Vater täglich gar viel vergeben, und Du wolltest nicht vergeben lernen? Wolltest Du wirklich in solcher Nacht des Grolles und Zornes ruhelos und friedlos verharren? Hebe Deine Augen auf und blicke nach dem hellen Gottesstern im Siebengestirn des Vaterunsers! – Daß wir aber zu der alten Schuld nicht noch neue fügen, fahren wir for

Führe uns nicht in Versuchung

Mein Kind, wenn dich die bösen Buben locken, so folge ihnen nicht.
Spr. Salom. 1, 10.

„Führe uns nicht in Versuchung!“ Auf einem bekannten Bilde sieht man zwei liebliche, spielende Kinder. Das eine springt jauchzend in die Höhe nach einem bunten Schmetterling, das andere beugt sich nieder, eine schöne Blume zu pflücken. Aber einen Schritt davon gähnt ein tiefer Abgrund. Sie sind schon am Rande, noch einen Augenblick, und die zarten Glieder liegen zerschmettert in der Tiefe. Aber – hinter ihnen steht eine heilige, himmlische Gestalt und breitet ihre Hände schützend über die Kinder. Wir bangen nicht mehr um die Kleinen. Ihr Schutzengel bewahrt sie. Können auch, wie unsere Kinder, wir Erwachsenen uns solcher Bewahrung getrösten? Bedürfen wir ihrer? Ja, mein Christ, wir selbst sind gar oft solche Kinder, die nach einem Schmetterling oder nach einer Blume haschen und die Gefahr nicht ahnen, die dahinter lauert. Aber auch wir haben einen Schutzengel, und den lernt man kennen, wenn man aus der Nacht der Versuchungen hinaus, hinauf nach oben blickt und betet: „Führe uns nicht in Versuchung.“

Ist doch unser ganzes Leben so versuchungsreich; kein Alter, kein Stand, keine Lebenslage ist frei davon. Aber es gibt eine doppelte Versuchung, eine zum Guten, eine zum Bösen. Gottgeschickte Versuchung ist Prüfung, da soll der Mensch wie in einem Examen inne werden, wie es um seinen Glauben, seine Geduld, seine Liebe steht. Solche Prüfungsstunden sollst Du Dir nicht wegbeten, Du könntest Dir viel Segen vom Herzen und Hause wegbeten; denn „selig ist der Mann, der die Anfechtung erduldet, denn nachdem er bewährt ist, wird er die Krone des Lebens empfahen.“ Wegbeten sollst Du die Versuchung zum Bösen, die will uns nicht stärken im Glauben, sondern irre machen am Glauben, die will uns nicht hinführen zu Gott, sondern loslösen von Gott. Von ihr sagt Luther im Katechismus: „daß uns der Teufel, die Welt und unser eigen Fleisch nicht betrüge und verführe in Unglauben, Verzweiflung und andre große Schande und Laster.“

Und nun, lieber Christ, blicke einmal zurück in Dein Leben, welche Versuchungen sind in Glück und Leid, von innen und außen schon an Dich herangetreten! Sicher und sorglos warst Du dahingegangen am Morgen, und am Abend – standest Du gebeugt, gebrochen, in Tränen! Du hattest zu beten vergessen: „führe uns nicht in Versuchung!“ Als Napoleon I. den edlen, deutschen Buchhändler Palm um seiner deutschen Gesinnung willen erschießen ließ, schrieb dieser am Abend vor seinem Tode an seine Kinder folgende Worte: „Haltet Euch an Gottes Wort, das haltet immer hoch, da werdet Ihr in allen Versuchungen des Lebens den rechten Weg finden.“

Daß in schweren Versuchungszeiten Gottes Wort und Gebet allein die rechte Hilfe beut, das hat auch A. H. Francke erfahren. Mit schwerem Herzen ging er auf dem Bauplatz des Waisenhauses einher, weil er nichts mehr hatte zum Weiterbau. Da reichte ihm ein Arbeiter eine im Schutt gefundene kleine Münze mit der Aufschrift: „Gott lässet die Versuchung so ein Ende gewinnen, daß ihr es könnet ertragen.“ Da sah er hell den Gottesstern leuchten und wurde wieder getrost und froh.

So blicke auch Du aus aller Nacht hinauf nach oben. Dort glänzt noch ein Stern im Siebengestirn in ganz besonderem Glanz!

(Fortsetzung und Schluß.)

Erzgebirgische Heimatblätter Nr. 48 – Sonntag, den 11. Dezember 1927, S. 1