Wie das Erzgebirge Industrieland wurde.

Von Dr. Siegfried Sieber.

Ein Kapitel aus meinem in Vorbereitung befindlichen Erzgebirgsbuch.

Die Industrie des Erzgebirges beruht auf Bodenschätzen, Holzreichtum, Wasserkräften und billigen, gewandten Arbeitern. Wenn erz- und Holzreichtum sich erschöpften, wenn die zuverlässige Dampfmaschine das unbeständige Wasserrad überwand, wenn in Kriegen und Seuchen die Arbeiterzahl sank, wenn Verkehr und Absatz stockte, jedesmal mußte die erzgebirgische Wirtschaft umgestellt werden. Frühzeitig übervölkert, wird das Erzgebirge bei Erlöschen des Silberblicks im 16. Jahrhundert zu Deutschlands fleißigstem Gewerbeland. Vater August und sein Berater Rochus von Lynar brachten Mühlen, Hämmer, Schmelzhütten und Zünfte in ihren Leistungen vorwärts. Als dann der 30jährige Krieg alle Ansätze zu künftiger Industrie vernichtet hatte, baute vornehmlich August der Starke die Gewerbe und Manufakturen wieder auf. Jedoch der 7jährige Krieg und die Hungersnot von 1771 zerstörten die neuen Keime. Als gegen 1800 ein dritter Aufschwung gekommen schien, rissen die Napoleonischen Kriege und das Eindringen der Spinnmaschine um 1807 tiefe Lücken in die erzgebirgische Industrie. Doch jedesmal, wenn Maschinen die Handarbeiter brotlos machten, lieferten diese neue Waren, die von der Maschine nicht gleich nachgeahmt werden konnten. Von 1833 an, seit der Begründung des deutschen Zollvereins, vervielfältigt sich das Fabrikwesen im Erzgebirge. Die ersten Gebirgsbahnen werden seit 1858 gebaut, die Gewerbefreiheit lockert alle Kräfte auf, Deutschland wird einig und hängt seine Maschinen an die Treibriemen der Weltwirtschaft. Seither läßt sich die Buntheit und Fülle der Gewerbe und Industrien im Erzgebirge nicht mehr meistern, bis der Weltkrieg Heereslieferungen erzwingt und nach der Umwälzung alte Zweige zerbrechen, neue Schößlinge sich hervorwagen. Rastlos, unverdrossen schaltet der Erzgebirger sich immer wieder in neue Wirtschaftsweisen ein.

Manche alte Mühle erzählt dir Wunderdinge aus vergangenen Tagen. So ist Hammer Leubsdorf, nahe Oederan, Jahrhunderte lang Eisenhammer, wird dann zur Mühle erniedrigt, erhebt sich aber 1838 zur Baumwollgarnfabrik. Oder seine Nachbarin die alte Oelmühle im Lößnitztal gegenüber Augustusburg muß als Knochenmühle dienen, wird dann Schafwoll- und endlich Baumwollspinnerei. Gerade die zahllosen Mahl-, Oel-, Walk-, Schleif- und Schneidemühlen aler Zeit sind oft umgebaut worden, am liebsten zu Holzschleifereien und Papierfabriken. Die Himmelmühle bei Wolkenstein war seit 1834 Baumwollspinnerei, jetzt ist sie Schokoladenfabrik. Aus der Baumwollspinnerei Floßplatz bei Wolkenstein wurde 1876 eine Pappenfabrik. An Stelle der 10 Stockwerke hohen Scharfensteiner Spinnerei nutzen jetzt die Mollwerke die Wasserkräfte der Zschopau, um Fässer aus Eisenblech und Radiotoren herzustellen. Desgleichen nistete sich eine Papierfabrik im Drahthammer Rothenthal bei Olbernhau ein, die Antonshütte bei Schwarzenberg, 1830 vom Berghauptmann von Herder eingeweiht, stellte schon 1844 ihre Erzverarbeitung ein, ward Schuhleistenfabrik, erzeugte dann Lederpappen und endlich Papier, oder aus dem Geyerschen Vitriolwerk entwickelte sich seit 1876 eine Erdfarbenfabrik. Kurz vor dem Weltkrieg war ja selbst das silberreiche Freiberg gezwungen, den Bergbau stillzulegen und Industrie an seine Stelle zu bringen. Geschickt entwickelte man dort heimische Gewerbe weiter, so die Gerberei, die durch Gerberschule und Lederversuchsanstalt gefördert wurde und jetzt feine Lederwaren und Mappen liefert. Außerdem holten die Freiberger fremde Ableger herbei, z. B. die im Erzgebirge hin und wieder auftauchende Porzellanindustrie. Dieser Versuch aus neuester Zeit zeigt in langsamem Aufbau doch ähnliche Züge wie frühere Betriebsumstellungen im Erzgebirge, die nur infolge plötzlicher Arbeitslosigkeit viel schmerzhafter verliefen.

Wie buntscheckig wird das Bild unserer Industrie, wenn man einige der vielen, oftmals nach kurzer Zeit mißglückten Versuche aufzählt, den notleidenden Erzgebirgern Arbeit zu verschaffen! Bisweilen spornte das alte ehrsame Handwerk alle Kräfte an zu Sonderleistungen. In Buchholz wohnten schon im 17. Jahrhundert die Spielkartenmacher. Sie bildeten eine Innung, bezogen ihr Papier aus der Buchholzer Papiermühle und aus Böhmen, beschäftigten auch Frauen beim Malen und Tagelöhner beim Glätten der Karten. Lößnitzer Uhrmacher bastelten um das Jahr 1770 zum Preise von einem Dukaten eine Taschenuhr aus Holz und Knochen, nur Feder und Kette waren aus Metall. Zur selben Zeit lebten in Oberpfannenstiel und Bernsbach Petschierstecher, und Bernsbach wurde etwas später Hauptort der Feuerschwammindustrie, obwohl auch Purschenstein um 1850 viele Zentner Feuerschwämme nach Dresden sandte und Hundshübel Badeschwämme vertrieb. Ganze Wagenladungen rohen Schwammes kamen aus den Karpathenwäldern und wurden im Erzgebirge zubereitet. Grünhain machte damals Regenschirme, Elterlein Lampenschirme. In Aue fanden viele Leute Verdienst mit der Herstellung und Bemalung von Schnupftabaksdosen aus Papiermaché, und bis gegen 1914 drehten und lackierten mehrere Fabriken im Auer Kessel ihre vielbegehrten hölzernen Pfeifenköpfe. Stützengrün und Wolfsgrün waren Ausgangspunkte der „Rußbuttengunga“, die aus Pech Ruß sotten und ihn in kleinen Holzfäßchen auf den Handel trugen. Oberwiesenthal hatte als Besonderheit Messerklingen, Haar- und Stecknadeln. 30 Nadler saßen noch 1846 dort oben. Von Crottendorf gingen bunte Patenbriefe in alle Lande, Randeck bei Mulda war durch Geigenbau berühmt, und vom Zwotatale drang die Musikinstrumentenmacherei nach Silberbach, Schwaderbach und Carlsfeld herüber ins Erzgebirge, während Oberwiesenthal und Scheibenberg Darmsaiten dazu herrichteten. Johanngeorgenstadt hatte schon 1680 der Karlsbader Gegend die Schatullentischlerei nachgeahmt. Immer kunstvoller wurden diese zierlichen, eingelegten Kästchen, die vielfach an Karlsbadreisende verkauft wurden. Endlich gingen die Tischler zu Uhrgehäusen über, und neuerdings sind Büromöbel an deren Stelle getreten. Um Rabenau im Weißeritztale ist seit Jahrhunderten Stuhlbauerei zu Haus; sie hat in Aue und in Brand bei Freiberg ebenfalls Boden gefunden.

Sogenannte städtische Industriezweige haben ihre Fabriken in vielen Erzgebirgsstädten aufgerichtet: Korsette, Fruchtsäfte, Marmeladen, Zigarren (besonders in Joachimsthal), Wachsblumen in Olbernhau auf Grund einer dortigen Erfindung, Schokolade in verschiedenen Orten, Wurstwaren in Lengefeld sind Erzeugnisse, die nicht iom Erzgebirge bodenständig sind. Solche Zufallsindustrien entstehen und vergehen allerdings schnell. In Raschau und Neustädtel ward 1855 die Korkfabrikation aufgenommen. Sie hat sich kräftig entwickelt, wiewohl sie natürlich ihre Rohstoffe aus Spanien und Portugal beziehen muß. Dagegen ist alteingesessen die Gewehrindustrie von Weipert, die Läufe aus Lüttich bezog und Jagdgewehre, Revolver, Pistolen und Scheibenstutzen anfertigt. Im Wiesenthal, in Lößnitz und Olbernhau bestand diese Rohrschmiederei schon im 17. Jahrhundert. Christian Lehmann nennt einen Oberwiesenthaler Büchsenmacher wegen seiner großen Kunstfertigkeit. Die Büchsenschmiede im Städtchen Lößnitz mußten als Meisterstück gezogene Läufe und Pürschschlösser anfertigen. In Olbernhau begann die Gewehrindustrie 1681. In wechselvoller Geschichte weist sie bald kräftiges Zunftwesen in den starken Innungen der Büchsenmacher und Schlosser, sowie der Büchsenschäfter und Tischler auf, bald wird unter August dem Starken eine Manufaktur daraus, endlich 1820 ist die Fabrik mit Maschinenbetrieb und schroffem Unternehmdertum, bis 1857 die Auflösung nötig wird. Lange Zeit versorgte Olbernhau das sächsische Heer mit Flinten. einige bezeichnende Stücke befinden sich in der Gewehrgalerie in Dresden. Ein eigenartiges Pfropfreis dieser einstigen Industrie ist die jetzt in Olbernhau und Umgebung blühende Fabrikation von Kindergewehren.

Wie die Gewehrindustrie dem Eisen nachging, so wurden die Glashütten von Wald und Quarz ins Gebirge gelockt. 1571 baute Sebastian Preißler auf dem böhmischen Seiten die Glashütte Oberjugel, 1624 errichtete Christoph Seelig „Weiters Glashütte“, die später zu dem großen Besitztum des Veit Hans Schnorr gehörte und bunte Gläser blies. Das abgelegene Nancy bei Sauersack besaß ebenfalls eine Glashütte. Aus Heidelbach bei Olbernhau kamen ehedem Spiegelgläser, desgleichen aus dem Folienhammer Altgeißing im Müglitztale. Brand-Erbisdorf hat eine ansehnliche Tafelglashütte, und 1911 wurde in Flöha die „Falkenhütte“ als Tafelglaswerk gegründet. Carlsfeld nahm 1855 im stillgelegten Hammerwerk Hohlglasfabrikation auf, zuerst mit kleinen Medizinflaschen für Bockauer Arzneilaboranten. Seit 1869 ward diese Glasfabrik nach und nach mit allen technischen Neuerungen ausgestattet, konnte zahlreiche einheimische Arbeiter beschäftigen und ward so zum Segen für das arme abgelegene Walddorf.

Das alles sind nur die Vorfrüchte und Nebenerzeugnisse der Industrialisierung des Erzgebirges. Die eigentlichen großen, noch heute im Gebirge herrschenden Industrien wie Metallverarbeitung, Maschinenfabrikation, Baumwoll- und Wäscheindustrie, Papiererzeugung, dazu Posamenten- und Stickereifabrikation samt der Spitzenklöppelei, Schuhmacherei und Spielwarenanfertigung sind sämtlich einer Sonderdarstellung wert.

Erzgebirgische Heimatblätter Nr. 33 – Sonntag, den 28. August 1927, S. 2