Wie das Lied entstand: „Mach’s mit mir, Gott, nach deiner Güt‘.“

Unser neues sächsisches Landesgesangbuch enthält eine ganze Reihe von Liedern, welche von Erzgebirgern gedichtet worden sind. Eines der schönsten darunter ist das Trostlied Johann Hermann Scheins: „Mach’s mit mir, Gott, nach deiner Güt‘.“ Johann Hermann Schein stammt aus Grünhain im Erzgebirge, wo sein Vater Pastor war. Dort erblickte er das Licht der Welt am 20. Januar 1586. Schein ward nachmals Kantor der Thomasschule zu Leipzig. Als Komponist und Liederdichter hatte er zu seiner Zeit nicht seinesgleichen. Die Geschichte der Musik nennt ihn heute noch als einen der Größten, die Deutschland jemals durch weltliche und geistliche Kompositionen die Liebhaber entzückt und selbst die Kenner zur Bewunderung hingerissen haben. Und dennoch ist er jetzt so gut wie vergessen.

Das soll nicht sein. Wir Erzgebirger zumal haben alle Ursache, auf ihn stolz zu sein und somit sein Andenken unter uns stets zu erneuern. Diesem Zwecke dient die folgende kleine Erzählung: Wie das Lied entstand: „Mach’s mit mir, Gott. nach deiner Güt‘.“ Möchte sie den Leser erfreulich sein und dem Helden der Erzählung unter ihnen diejenigen Sympathien gewinnen, die der stille Dulder einst bei seinen Zeitgenossen in so reichem Maße gefunden hat und gewiß auch heute noch verdient.

Es war der 13. Dezember 1628. Ein Jahr nahte sich seinem Ende, das Deutschlands Bewohnern Herzeleid und Kümmernis genug gebracht. Schon über 10 Jahre währte der entsetzlichste, der greuelvollste aller Kriege, die Deutschland je gesehen. Ströme Blutes waren bereits geflossen, ein blühender Gau nach dem anderen verheert und noch war kein Ende abzusehen. Zwar, im Herzen Deutschlands blieb Kursachen von dem Elende des Krieges zunächst noch ziemlich unberührt, aber höher und höher schwoll die Flut, sie bedrohte mehr und mehr auch die für sicher gehaltene Küste.

Handel und Wandel stockten, es erlahmte der fröhliche Aufschwung der Geschäfte und jegliche Unternehmungslust. Das merkte man in Leipzig zumal, das ehedem noch ganz anders als jetzt der Mittelpunkt des Verkehrs und allen Handels im gewerbreichen Sachsen war.

In Leipzig saß an jenem Tage in einer geräumigen Stube seiner Amtswohnung in der altberühmten Thomasschule der Kantor Johann Hermann Schein. Er saß in einem Lehnstuhle am Fenster, durch welches er in die Winterlandschaft hinaus sah. Aber trotz des Feuers, das, von buchenen Scheiten genährt, hinter den grünen Kacheln knisterte und in glühenden Flämmchen durch die Oeffnungen der Ofentür dann und wann sichtbar ward, fröstelte Schein. Er hüllte sich fester in sein mit Pelz verbrämtes Gewand und rückte den Stuhl vom Fenster weg in die Nähe des Ofens.

Schein stand nur erst im 43. Lebensjahre. Aber schwere Krankheitsanfälle hatten seine Kraft vor der Zeit gebrochen und ließen ihn matt und schwach erscheinen. Seine Wangen waren eingefallen. Wohl färbte sie ein krankhaftes Rot, aber es verlieh ihnen nicht den Schein der Gesundheit sondern verriet nur mehr den Keim des Todes in ihm. Die feinen, mageren Hände, auf denen die Adern bläulich schimmerten, ruhten kraftlos im Schoße. Er hatte sie gefaltet.

Brennenden Auges sah er vor sich hin. Sein Blick fiel auf die gegenüberliegende Wand. Dort lag auf einem Tisch sein Lieblingsinstrument, die Laute. Darüber hingen Bilder, die Porträts seiner Eltern und seiner vor wenigen Jahren verstorbenen geliebten ersten Frau, weiter unten eine einfache Bleistiftzeichnung, das Städtchen Grünhain, der Ort seiner Geburt.

Er rief Bilder aus der Vergangenheit in sich wieder wach, wie er als Kind auf der grünen Flur und in den dunklen Wäldern ringsum mit den Altersgenossen gespielt, wie er dann nach des Vaters frühem Tode das ihm so lieb gewordene Pfarrhaus hatte verlassen müssen und mit der Mutter nach Dresden gezogen war. Dort hatte ihn, den früh verwaisten, die Liebe der Großeltern und die Fürsorge des Kurfürsten, der ihn durch Vermittlung seines Oberhofpredigers, des hochberühmten Dr. Polykarp Leyser, als „Diskantist“ in seine „Kantorey“ aufgenommen, behütet und erzogen, bis er im 17. Jahre, nachdem seine Stimme mutiert, auf kurfürstlichen Befehl „zu weiterer Versorgung“ in die Schulpforte geschickt worden war. Von hier aus hatte er, empfohlen durch ein treffliches Zeugnis seiner Lehrer und ausgerüstet mit einem kurfürstlichen Stipendium, die Universität Leipzig bezogen, um „hierselbst bis ins vierte Jahr neben den freien Künsten die „Jurisprudentia“ zu studieren.

Aber seine eigentliche Liebe war doch immer die Musik geblieben, die ja gerade damals von Italien aus neue Anregung und wesentliche Förderung erfuhr. Sie blieb die verschwiegene Freundin seiner einsamen Stunden, wie sie in fröhlicher Geselligkeit die unter Freunden zugebrachten ihm verschönte. Sie verschaffte ihm auch zuerst sein Brot.

Im Jahre 1611 ward der fünfundzwanzigjährige Jüngling „bei dem Wol Edeln gestrengen und Vesten Herrn Gottfried von Wolffersdorf Churf. Sächs. Hauptmann zu Weißenfels zu seiner jungen Edelleute Praeceptorem und dessen Hausmusic Directorn angenommen.“ Es war wohl die glücklichste Zeit seines Lebens, die Zeit, der er neben der Anregung des Pfarrhauses, in dem er seine Kinderjahre verlebt, auch zumeist Halt und Richtung und ernste christliche Gesinnung verdankte. Anno 1615 empfahl ihn sein Gönner an Johann ernst den Jüngeren, Herzog von Sachsen, der ihn als Kapellmeister nach Weimar rief.

Es waren schöne Jahre, die er hier verlebte, beglückt durch die Gunst des edlen Fürsten und beseligt durch die Liebe seiner teueren ersten Frau Sidonie, der Geliebten seiner Jugend. Er hatte sie einst in Dresden kennen gelernt und nunmehr heimgeführt.

Sein Auge leuchte wieder auf bei der Erinnerung an jene glückliche Zeit. Er wandte sein Antlitz voll der Sonne zu, die noch immer hoch am Himmel stand und, mit goldnem Licht das Zimmer überflutend, auch des Kranken Antlitz mit einem rosigen Schimmer übergoß.

Viel hatte Schein der gnädigen Führung Gottes bis dahin zu verdanken, er war sich dessen wohl bewußt, um seine Lippen schwebte leise ein tief empfundenes Gebet. Und Gott war nicht müde geworden, ihn auch ferner zu segnen. Die Stellung eines Chordirektors und Kantors der Schule zu St. Thomas in Leipzig war schon damals, wie noch heute, eine der geachtetsten, von strebsamen Künstlern meist begehrten in deutschen Landen. Auch sie ward ihm im Jahre 1616 zuteil. Er war glücklich in seinem Amte und glücklich in seinem Hause. Er durfte Höheres nicht erwarten und begehrte es nicht. Sein Lebensschifflein schien in den Hafen der Ruhe, ja des Glückes eingelaufen zu sein.

Und doch sollte gerade jetzt eine Trübsal nach der andern ihn treffen. So ist es nach Gottes Willen der Menschheit Los. Auch das edle Gold bedarf zu voller Reinigung der läuternden Flammen. Gott hatte die ehe Scheins mit fünf Kindern bis dahin gesegnet. Drei liebliche Töchter starben ihm schon früh, noch in der Weimarer Zeit. Aber er durfte sich zweier Söhne freuen, die sichtlich gediehen. Da ward ihm im Jahre 1624 ein schweres Hauskreuz auferlegt durch den für ihn selber, wie die Kinder, viel zu frühen Tod seines lieben Weibes. Sie starb im Kindbett. Schein war trostlos. Es gelang seinen Freunden nur schwer, ihn zu trösten, wie sehr sie sich auch darum bemühten. Insbesondere war es der später so berühmt gewordene Liederdichter Paul Fleming, der durch Beweise zarter Teilnahme den Tiefgebeugten aufzurichten versuchte.

Schein hatte Paul Fleming immer besonders lieb gehabt. Seit der liebenswürdige und talentvolle Knabe die Thomasschule bezogen, hatte sich Schein als Landsmann und Lehrer seiner mit besonderer Liebe immer angenommen. Nun erntete er den Lohn für seine Güte in der rührenden Anhänglichkeit und innigen Verehrung, die warmherzig auch Paul Fleming ihm entgegenbrachte.

Jetzt eben erinnerte sich der Kranke mit wehmütiger Freude wieder des Liedes, das Paul Fleming damals ihm bei dem Hingang seiner geliebten Sidonie gewidmet. Es war ein lateinisches Epigramm. Nach der Sitte der Zeit hatte sich auch Paul Fleming zuerst in lateinischen Gedichten versucht. Mit erstaunlicher Leichtigkeit entquoll Vers auf Vers seiner schreiblustigen Feder. Man merkt es der Form an, wie sorgsam er die klassischen Muster Roms studiert. Nur der Inhalt verrät, und das ist ein Vorzug auch der lateinischen Gedichte Flemings, den Deutschen. Ein warmer Herzschlag treuer Liebe und frommen Glaubens wird hörbar unter dem kunstvollen antiken Gewand.

Schein hatte die Verse die sein Schüler, der damals erst fünfzehnjährige Fleming, ihm überreicht, noch wohl in der Erinnerung. Den Kopf nach dem Takte der Versfüße leicht hin und her bewegend, sprach er sie jetzt leise vor sich hin. Die Verse lauten in deutscher Nachdichtung:

„Liebling der Elbe und Stolz der lindenumschatteten Pleiße,
Die uns Dresden geschenkt, Leipzig im Tode geraubt,
Ach! So entfliehst Du, Sidonia, uns in der Blüte der Jahre,
Weib, dessen treue verdient, länger zu leben bei uns.
Ach! Nun weint der Vater betrübt, mit den Kindern der Gatte,
Und mit den Teuren zugleich weinen die Freunde voll Schmerz.
Schienest uns mild wie ein Stern, nun wardst Du entrückt zu den Sternen,
Die von den Sternen kam, kehrt zu den Sternen zurück.“

Wie oft hatte seitdem Schein zu den Sternen aufgeschaut, wenn sie nachts in wunderbarer Klarheit am Himmel leuchteten! Wie oft war ihm von dort durch den, der über den Sternen thront, Trost und Beruhigung geworden.

Und dann hatte die Zeit, die Wunden heilt, auch auf seine Wunde den lindernden Balsam gelegt. Nach Ablauf des Trauerjahres hatte er sich – denn die Verhältnisse geboten es – wieder vermählt. In Elisabeth von der Pera, der Tochter des Leipziger Bürgers und für seine Zeit hochberühmten Kunstmalers, hatte ihn Gott die Verlorene wieder finden lassen. Sie war ihm ein liebes Weib, seinen beiden Knaben eine treue Mutter geworden. Ja, mehr als dies. Für sein Wesen und seine künstlerischen Neigungen zeigte sie ein so feines Verständnis und nahm an seinen musikalischen Schöpfungen mit solcher Hingebung teil, daß es ihm zur höchsten Befriedigung gereichte.

(Fortsetzung folgt.)

Erzgebirgische Heimatblätter Nr. 44 – Sonntag, den 13. November 1927, S. 2